Fortbildung "Psychische Erkrankungen bei Kindern und Eltern"

Dr. Michael Hipp ist Arzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie. Er war Leiter des Sozialpsychiatrischen Dienstes Hilden und ist Mitbegründer des Förderkreises KIPKEL e.V. Prävention für Kinder psychisch kranker Eltern im Kreis Mettmann sowie Initiator der Kooperationsvereinbarung zwischen der Erwachsenenpsychiatrie und der Jugendhilfe des Kreises Mettmann. Dr. Michael Hipp ist Dozent zum Thema “Kinder psychisch kranker Eltern”.
Sieben Fragen an Dr. Michael Hipp
Welche aktuellen Herausforderungen sehen sie in der Jugendhilfe, insbesondere im Umgang mit den belasteten Familien?
Dr. Michael Hipp: Die Jugendhilfe wird ebenso wie alle Bildungsinstitutionen zunehmend von Familien in Anspruch genommen, die sich in Multiproblemlagen befinden. Bei den Eltern lassen sich dabei sehr häufig traumatische Erfahrungen in ihrer eigenen Kindheit wie zum Beispiel emotionale und physische Vernachlässigung, unverarbeitete Beziehungsverluste, Misshandlungen oder sexualisierte Gewalt nachweisen. Meist wurden sie dadurch in ihrer Persönlichkeitsentwicklung nachhaltig beeinträchtigt. Aufgrund ihrer Autonomiedefizite fällt es ihnen schwer, den Anforderungen in Beruf und Familie zu entsprechen. Erwerbslosigkeit, Armut, Verschuldung, Konflikte mit den Behörden, Haushaltsdesorganisation, Suchtmittelmissbrauch, Delinquenz sowie Trennung und Scheidung sind regelhaft zu beobachten. Bei Migrantenfamilien treten noch Probleme bei der sprachlichen und kulturellen Anpassung hinzu. Immer ist auch die Fürsorge- und Erziehungsfähigkeit eingeschränkt. Die Thematisierung der zugrunde liegenden psychischen Störung wird aufgrund der damit verbundenen Stigmatisierung und Entwertung häufig abgelehnt. Aufgrund ihrer Mentalisierungsdefizite können sich die Eltern nicht ausreichen selbst reflektieren und ihre Defizite nicht wahrnehmen. Ohne Krankheitseinsicht verweigern sie die dringend notwendigen medikamentösen oder psychotherapeutischen Interventionen. Die in der Jugendhilfe vorgehaltenen Unterstützungsangebote basieren auf pädagogischen Konzepten, können also die Psychopathologie der Eltern und deren Kinder kaum beeinflussen. Die Eltern erwarten von den Fachkräften bedingungslose Entlastung und Versorgung sowie die Reparatur der Kinder, damit diese besser handhabbar sind. Sie geben den Fachkräften keinen Veränderungsauftrag, so dass das Prinzip „Hilfe zur Selbsthilfe“ nicht umsetzbar ist. Die pädagogischen Hilfen werden durch die überforderten und misstrauischen Eltern nicht selten als zusätzliche Belastung und Kontrolle wahrgenommen und daher abgelehnt.
Haben sich die Herausforderungen in den letzten Jahren verändert? Wenn ja, woran liegt das?
Dr. Michael Hipp: Die Zahl der hilfsbedürftigen Familien wächst unter dem Einfluss sich stark verändernder Umweltverhältnisse kontinuierlich. Die ökonomischen Sachzwänge mit der Notwendigkeit der Berufstätigkeit beider Eltern führen zu einer erheblichen Stressbelastung. Eine besondere Bedeutung gewinnt dabei die Digitalisierung. Soziale Medien und Onlinespiele sind überall verfügbar und erfordern ungeteilte Aufmerksamkeit. Die überforderten Eltern suchen dort Entspannung oder Ablenkung und delegieren auch die Regulation ihrer Kinder an die virtuelle Welt des Internets. Dies weitet sich immer mehr zu einer Form der emotionalen Vernachlässigung aus, können doch Kinder in ihrer Entwicklung ausschließlich von der Interaktion mit realen Menschen profitieren. Die Folgen sind motorische und sprachliche Entwicklungsverzögerungen, Einschränkungen der Aufmerksamkeitsfunktionen und später ausgeprägte Lernstörungen.
Wie können Fachkräfte in der Jugendhilfe besser mit psychisch erkrankten Jugendlichen umgehen, ohne selbst auszubrennen?
Dr. Michael Hipp: Im Umgang mit den psychisch belasteten Familiensystemen werden die Fachkräfte immer wieder mit einer fast grenzenlosen Bedürftigkeit konfrontiert. Hinzu kommen die emotionalen Folgen traumatisierender Erfahrungen der Eltern wie dem unberechenbaren Hervortreten von Angst, Depressivität und Aggressivität. Auf der einen Seite fordern die betroffenen Eltern und Jugendlichen energisch Unterstützung ein, gleichzeitig empfinden sie die Hilfen als Belastung und Kontrolle und weisen diese zurück. Die Fachkräfte werden in diesem paradoxen Spannungsfeld an die eigene Bindungsgeschichte erinnert. Wenn sie ihre eigenen biographischen Belastungen nicht kennen, können sie Nähe und Distanz zu ihren Klienten nicht angemessen regulieren. Übertragungsphänomene verzerren das Interaktionsgeschehen und führen zu realitätsfernen Idealisierungen und Entwertungen. Regelmäßige Teambesprechungen und Supervisionen leisten einen wichtigen Beitrag zu Fallverstehen und Selbstreflexion und bilden damit auch die Voraussetzungen für Psychohygiene und Selbstfürsorge der Fachkräfte. In den meisten pädagogischen Ausbildungsgängen werden psychische Erkrankungen nicht ausreichend berücksichtigt. Dies führt zu der dringenden Notwendigkeit, die Fachkräfte über entsprechende Fortbildungsprogramme zusätzlich zu qualifizieren.
Welche Strategien können die Mitarbeiter:innen nutzen, um mit psychisch erkrankten Eltern umzugehen?
Dr. Michael Hipp: Psychisch kranke Eltern sind in ihren Fähigkeiten zu Stressbewältigung, Affektregulation und Beziehungsgestaltung beeinträchtigt. Aufgrund ihrer Mentalisierungsdefizite können sie sich nur eingeschränkt selbst reflektieren, die Perspektive wechseln und sich in andere Menschen einfühlen. Sie sind gegenüber allen Hilfsangeboten misstrauisch und zeigen eine Tendenz, sich bei Irritationen sofort zurückzuziehen bzw. Kontakte abzubrechen. Bei der Interaktion mit den betroffenen Eltern kommt es also darauf an, jede Überforderung zu vermeiden. Allzu ehrgeizige Ziele, die im Hilfeplanverfahren formuliert werden, führen bei den Eltern zu einer Abwehrhaltung und gefährden die Kooperation. Um Veränderungsprozesse anzustoßen sind Sicherheit und Entlastung zu gewähren. Dadurch kann Vertrauen erworben und eine Problemkongruenz erarbeitet werden. Nur auf der Basis von verlässlichen Strukturen und einer wohlwollenden emotionalen Resonanz können die Eltern zur Mitarbeit motiviert werden. Dabei darf das Kindeswohl aber nicht ignoriert werden. Wenn die Psychopathologie so ausgeprägt ist, dass das Fürsorgesystem der Eltern dauerhaft blockiert ist, muss eine Fremdunterbringung der Kinder in Erwägung gezogen werden.
Wie können Fachkräfte die Kinder und das System Familie stärken?
Dr. Michael Hipp: Die Familien mit psychisch kranken Eltern verfügen nur über stark eingeschränkte Entwicklungspotentiale. Veränderungen vollziehen sich über lange Zeiträume. Daher müssen Ressourcen identifiziert, aktiviert, aber ebenso substituiert und kompensiert werden. Dies bedeutet praktische Hilfestellungen beim Umgang mit den Behörden und bei der Haushaltsorganisation. Dies kann über die Eingliederungshilfe z.B. das Ambulant Betreute Wohnen geschehen. In manchen Fällen muss zusätzlich eine gesetzliche Betreuung eingerichtet werden. Eine nachhaltige Rückbildung der Psychopathologie und damit eine Verbesserung der Erziehungsfähigkeit kann nur durch medikamentöse und/oder psychotherapeutische Maßnahmen erreicht werden. Für die Kinder ist es notwendig, Fördermöglichkeiten außerhalb der Familie zu erschließen. Dies kann durch die Integration in Sportvereine oder andere interessensgeleite Jugendgruppen geschehen, in denen die Kinder positive Beziehungs- und Selbstwirksamkeitserfahrungen machen können. In vielen Fällen sind gezielte Fördermaßnahmen wie z.B. Logopädie, Motopädie, Ergotherapie etc. zu implementieren. Psychotherapeutische Interventionen können nur erfolgreich sein, wenn gleichzeitig die Eltern ihr Fürsorgeverhalten verbessern.
Welche Rolle spielt die Zusammenarbeit mit anderen Organisationen wie z.B. Schulen? Wie lässt sich diese verbessern?
Dr. Michael Hipp: Aufgrund des großen Unterstützungsbedarfs stehen die Familien mit vielen Institutionen in Kontakt. Ohne eine enge Vernetzung mit entsprechender Kommunikation und Kooperation können Parallelstrukturen, Konkurrenzen und Spaltungen entstehen, die einen zielgerichteten Ressourceneinsatz unmöglich machen. Eine besondere Bedeutung kommt den Kitas und Schulen zu. Diese sind angehalten, den Kindern korrigierende Erfahrungen zu vermitteln. Die pädagogischen Fachkräfte müssen durch ihre emotionale Resonanzfähigkeit den Kindern Momente der Verbundenheit und Geborgenheit ermöglichen. Dazu ist es notwendig, die Leistungsanforderungen nicht am Lebensalter sondern am Entwicklungsstand der Kinder zu orientieren, also eine individuelle Förderung zu gewährleisten. Besonders wichtig ist es auch, den Übergang zwischen Kita und Schule in enger Abstimmung zu gestalten. Denn viele Kinder sind auch im Alter von 6 Jahren nur eingeschränkt schulfähig und reagieren auf den Verlust ihres vertrauten Kita-Umfeldes und der Überforderung in der Schule mit erheblichen Verhaltensauffälligkeiten. Hierauf sind die Schulen nur unzureichend vorbereitet. Unter Berücksichtigung datenschutzrechtlicher Bestimmungen muss eine frühe Abstimmung zwischen Jugendhilfe, Kita und Schule erfolgen. Schweigepflichtentbindungserklärungen der Eltern gegenüber allen beteiligten Institutionen mit dem dadurch ermöglichten Informationsaustausch sind die Voraussetzung für das Fallverstehen und damit auch für eine integrierte Förderung Kinder.
Welche Methoden oder Ansätze empfehlen Sie, um die Resilienz von Kindern und Jugendlichen nachhaltig zu stärken?
Dr. Michael Hipp: Die Resilienzförderung der Kinder muss vor allem in der bindungssensiblen Zeit, also in den ersten drei Lebensjahren erfolgen. Danach sind ihre Hirnstrukturen voll entwickelt und eingetretene Schäden sind nur noch sehr aufwändig zu korrigieren. Dabei geht es vor allem um die grundsätzliche Einstellung des Stressbewältigungssystems (Cortisol), des Bindungssystems (Oxytocin) und des Explorationssystems (Dopamin/Endorphine). Die Neugeborenen und Kleinkinder benötigen resonanzfähige Eltern oder andere Bindungspersonen wie z.B. die pädagogischen Fachkräfte in der Kita, die ihnen Sicherheit vermitteln und sie verlässlich physisch und emotional regulieren. Erst auf dieser sicheren Basis kann sich das Explorationssystem entwickeln, so dass die Kinder über Lernen Selbstwirksamkeit erfahren, Kompetenzen aufbauen und somit eine Resilienz gegenüber Stressfaktoren entwickeln. Auch in den späteren Lebensjahren sind geordnete Strukturen, vertrauensvolle Beziehungen und Selbstwirksamkeitserfahrungen über erfolgreiches Lernen die Grundlage für eine Resilienzstärkung.
Foto: © Dr. Michael Hipp